An dem Taxifenster huscht ein Schatten vorbei. Die Silhouette verschwindet zwischen Abgasschwaden und Fahrzeugen. Der eben noch so phlegmatische Erdnussverkäufer drückt seinen Korb einem Bekannten in die Hand und rennt hinterher. Neben ihm, hinter ihm laufen noch andere. Sie jagen den Schatten. Der zieht sein Tempo an, denn es geht um sein Leben. "Das ist vermutlich ein Taschendieb, der aufgeflogen ist", sagt ein Mann im Taxi. Was passiert, wenn sie ihn erwischen? "Wenn er Pech hat, landet er in Reifen und wird verbrannt. Auf jeden Fall wird er ordentlich verprügelt", antwortet er mit einem Lächeln. Aber was ist mit der Polizei? "Die lassen ihn doch nach zwei Tagen wieder raus und dann stiehlt er weiter. Das bringt doch nichts." Selbstjustiz ist keine Seltenheit in Uganda. So wird manchmal der Bauer, Verkäufer oder auch Taxifahrer zum selbsternannten Richter und Vollstrecker seines eigenen Urteils.
Von Selbstjustiz spricht man, wenn jemand gegen erlittene Straftaten oder sonstige als rechtswidrig oder ungerecht empfundene Handlungen nicht mit staatlicher Hilfe nach staatlichen Regeln vorgeht, sondern seine vermeintlichen Rechte selbst durchsetzt. In Uganda findet man diese Bestrafung vor allem auf dem Land, aber auch in den Städten. Selbstjustiz ist verboten - trotzdem gibt es sie. Oft werden diejenigen, die sie ausführen, nicht bestraft. Nicht selten jedoch zahlen die Opfer der Selbstjustiz mit dem Leben. Weit über 100 Menschen pro Jahr sterben an ihren Folgen. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein.
Der Plantagenbesitzer, der seine Bananen vergiftet, damit den Dieben, die dort regelmäßige Früchte klauen, eine "Lektion" erteilt wird. Der wütende Mob, der den Einbrecher steinigt, der auf frischer Tat ertappt wurde. Die Frau, die den Ehebruch (in Uganda strafbar) ihres Mannes ahndet, indem sie das Haus seiner Geliebten in Brand setzt, während ihr Ehemann diese gerade besucht. Der Junge, der von den Inhabern der Tante Emma-Läden mit einem Stock blutig geschlagen wird, weil er ein Brötchen geklaut hat. Der Taxifahrer, der bis zur Ohnmacht geprügelt wird, weil er Schuld an einem Unfall hatte. Der Sicherheitsmann, der fast jede Woche Fremde erschießt, die eine Wohnsiedlung unbefugt betreten - der die Leichen schließlich an andere verkauft, die deren Kleidung und Schmuck verwerten und ihre Körper verschwinden lassen, ohne dass je jemand erfährt, was passiert ist. Das sind nur einige der Fälle von Selbstjustiz, von denen mir Ugander und deutsche Freiwillige berichtet haben oder die ich selbst erlebt habe. Nachdem ich das erste Mal Zeuge von solch einem Vorfall wurde, habe ich lange darüber nachgedacht, weshalb Menschen ihre Selbstkontrolle derart verlieren können, nur weil ein kleiner Junge etwas geklaut hat. Ich konnte es nicht verstehen und kann es (gerade in diesem speziellen Fall) bis heute nicht verstehen. Aber mittlerweile glaube ich ein wenig nachvollziehen zu können, was in den Menschen vorgeht.
Selbstjustiz ist laut Experten immer ein Ausdruck von Missständen in der Gesellschaft beziehungsweise im politischen System. Sie gilt als Zeichen des Misstrauens der Bevölkerung gegenüber Polizei und Justizsystem. Viele Aussagen meiner ugandischen Freunde und Bekannten bestätigen das. Sie erzählen, dass ihnen nach Verbrechen nicht geholfen wurde oder der Täter nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß war. In seltenen Fällen habe er sich dann sogar für die Anzeige gerächt.
Oft wurden die Opfer bestohlen. Was in Europa teils als Bagatelldelikt gehandelt wird, hat hier eine andere Bedeutung. Die Menschen haben so wenig, wenn man ihnen auch das noch nimmt, indem man ihre Geschäfte ausräumt oder in ihre Häuser einbricht, dann raubt man ihnen nicht nur einige Gegenstände - man nimmt ihnen ihre Existenzgrundlage. Selbst wenn der Dieb erwischt wird, so ist es doch unwahrscheinlich das Diebesgut zurückzubekommen. Die alte Frau, die einen kleinen Laden mit Alltagsbedarf betreibt, hat nach einem Überfall, während dessen das ganze Geschäft leergeräumt wurde, keine Chance mehr, sich selbst zu versorgen - sie ist auf die Fürsorge ihrer Familie angewiesen oder muss betteln gehen.
"Schafft es ein Einbrecher ins Haus, heißt es: du oder er. Denn wenn du Alarm schlägst, ist er dran und das weiß er." Das haben uns unsere Nachbarn gleich zu Beginn erklärt. Trotz Warnung war ich nicht sonderlich besorgt - bis ich einige Woche allein war und jemand an Fenstern und Türen rüttelte. "Ich habe ihn auch gehört", erzählte mir am nächsten Morgen die etwa 60 Jahre alte Nachbarin, die mit ihrem Sohn im angrenzenden Haus wohnt. Sie kommt aus Ruanda, ist vor dem Genozid in den Kongo geflohen, wo sie sogar einige Zeit im Busch hausen musste. Nun lebt sie in Uganda, in einem relativ stabilen Land, in einem schönen Haus und kann nachts nicht schlafen. Sie geht zwischen 18h und 19h ins Bett, damit sie zwischen 2 und 5 Uhr Wache halten kann. Danach geht sie wieder schlafen. Trotzdem schreckt sie bei jedem Geräusch hoch, fühlt sich selten sicher. Ugandas Bevölkerung leidet unter der Kriminalität. Und gerade Opfer von Verbrechen, die noch immer tabuisiert werden wie Sexualdelikte, haben in dem System keine Chance. Es gibt kaum Anlaufstellen für sie. Gelingt eine Vergewaltigung an die Öffentlichkeit muss die Frau nicht selten mit Ausgrenzung rechen. Neben der Scham auch noch finanzielle Hürden allein zu überwinden, scheint unmöglich. Gerichtsverfahren kosten viel in diesem Land. Rechtsschutzversicherungen gibt es zwar, aber erschwinglich sind sie nur für die Reichen. Es sind weder Blutdurst noch barbarische Triebe, die Menschen zur Selbstjustiz bewegen. Es sind Gefühle wie ständige Unsicherheit und die Wut über die eigene Hilflosigkeit, die sie von innen zerfressen.
Trotzdem: Das alles ist keine Entschuldigung dafür, dass Menschen auf grausamste Weise hingerichtet werden. Sie können sich nicht verteidigen oder erklären. Und natürlich trifft es auch Leute, die unschuldig sind oder geistige Behinderungen haben und das Unrecht ihrer Tat gar nicht verstehen können. Aber eine einfache Lösung ist nicht abzusehen, da die Ursachen vielfältig sind. Uganda braucht Veränderungen, grundlegende Veränderungen, die aus dem Land heraus entstehen. Menschen müssen sich sicher und gerecht behandelt fühlen. Die Regierung arbeitet seit einigen Jahren daran. Ein erster Schritt sind derzeit verstärkte Radiokampagnen gegen Selbstjustiz. Aber wie gesagt, das ist nur ein erster, kleiner Schritt und ohne weitere Maßnahmen wohl eher ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Artikel zu dem Thema (vorsicht einige Bilder sind nicht leicht zu verkraften):
http://newvision.co.ug/D/9/183/583134/mob%20justice
http://www.independent.co.ug/column/opinion/353-why-mob-justice-is-a-problem
http://allafrica.com/stories/201104040077.html