Mittwoch, 27. Juli 2011

Anders

"Während den politisch und ethnisch motivierten Gewaltexzessen von radikalen Hutu gegen Tutsi und Oppositionelle, die vom 6. April 1994 bis Anfang Juli 1994 in Ruanda andauerten, kamen nach internationalen Schätzungen mindestens 500 000 Menschen ums Leben. Die herrschende Meinung geht eher von 800 000 bis 1 000 000 Toten aus. Etwa 75 Prozent der einheimischen Tutsi-Bevölkerung wurde getötet. Die Täter, die der größten Bevölkerungsgruppe Ruandas angehören, gingen dabei äußerst brutal vor. Viele der Überlebenden flohen in die umliegenden Länder. Beendet wurde der Völkermord durch den Einmarsch einer Armee aus Tutsi und Oppositionellen – der Ruandan Patriotic Front, die teils international unterstützt wurde. Der Genozid war insofern einzigartig, als dass die Übergriffe nicht nur von staatlicher Seite ausgingen, sondern auch und vor allem von der Zivilbevölkerung gegen die Zivilbevölkerung. Experten schätzen allein die Anzahl der Täter, die an Mord-, Plünderungs- und Vergewaltigungsdelikten beteiligt waren auf etwa 500 000. Im Laufe der Jahre wurden über 130 000 Personen festgenommen. Nun galt es eine Lösung zu finden, mit dieser Masse an Verdächtigen umzugehen. Generalamnestie, eine Wahrheitskommission, Verfahren vor ordentlichen Gerichten und die Besinnung auf traditionelle Gerichtsbarkeiten standen zum Gespräch. Bei der Auswahl der richtigen Vorgehensweise musste stets die Instabilität der Gesellschaft beachtet werden. Schließlich sollten die Gruppen als erstes Ziel wieder miteinander versöhnt werden. Für die neue ruandische Regierung stand fest, dass dies nur über eine vollständige strafrechtliche Aufarbeitung möglich war. Um die Gefangenenzahlen bewältigen zu können, nutzte der Staat auch ein traditionelles Rechtsprechungsverfahren aus vorkolonialer Zeit – die Gacaca-Gerichte. Diese Arbeit befasst sich mit der Darstellung der Aufarbeitung des Genozids auf nationaler Ebene durch die Strafgerichtsbarkeit. Es wird auf wesentliche Mängel und Vorteile der Verfahren eingegangen. Aus diesen Ergebnissen wird anschließend eine Bewertung entwickelt, aus der Verbesserungsansätze gezogen werden."
Einleitung einer meiner Hausarbeiten über den ruandischen Genozid

Man kann über ein Thema lesen, schreiben, nachdenken - studenlang, tagelang, wochenlang. Im Kopf verdichten sich all die Informationen immer mehr zu einem Bild. Man entwickelt einen ganz besonderen Bezug zu etwas. Und dann, wenn man von der Theorie in die Praxis wechselt, ist alles ein Stück weit anders. Obwohl man die Zeit über weiß, dass es einen Unterschied zwischen imaginären Bild und Wirklichkeit gibt, ist man überrascht von der Realität. Die Erfahrung habe zumindest ich gemacht, als ich Ruanda besucht habe. Afrika ist nicht nur Afrika. Es ist ein Kontinent mit den unterschiedlichsten Landschaften, Tieren, Menschen, Kulturen, Sozialstrukturen, politischen Systemen, Religionen, Wirtschaftsformen und so weiter und so weiter. Schon oft gehört. Schon oft erzählt. Wie groß das Ausmaß dieses Unterschieds wohl sein kann, wurde mir in Ruanda bewusst. Denn Ruanda, (zumindest Kigali und Huye) ist anders - anders als Uganda und anders als mein Kopfbild. 

Was ist denn nun so anders? Eine kleine Übersicht von all dem, was mir in der kurzen Zeit aufgefallen ist -  Unwesentliches und Wesentliches:

Landschaft:
Die Bezeichnung: "Das Land der tausend Hügel" ist nicht übertrieben. Ich habe noch nie ein Land mit so vielen Hügeln gesehen. Der Herr im Vordergrund ist übrigens Tim - auch ein deutscher Freiwilliger des DRK und eine gute Reisebegleitung.

Sprache:
Muttersprache ist Kinyarwanda und wird von fast allen Ruandern gesprochen, daneben werden an den Schulen noch Französisch und Englisch gelehrt. Vergleich zu Uganda: In Uganda leben über 40 verschiedene Völker/ Stämme. Jede Gruppe hat ihre eigene Sprache bzw. eine eigene Ausprägung der Sprache. Deshalb wird schon früh in jeder Grundschule Englisch gelehrt, damit man sich verständigen kann.


Verkehr:

Ruanda verfügt über ein unglaublich gut ausgebautes Straßenverkehrssystem. Keine Schlaglöcher, keine unverständliche Fahrbahnmarkierung.
Busse und Sammeltaxis bilden wie in Uganda den öffentlichen Nahverkehr - allerdings mit dem Unterschied, dass sie nicht überladen werden. Das ist nämlich gesetzlich verboten und wird streng kontrolliert. Es bereitet dem System allerdings einige Probleme: So bilden sich im Zentrum zu den Hauptverkehrszeiten riesige Schlangen an Haltestellen und Taxiparks. Man kann bis zu eine Stunde auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Aber es ist immer noch sicherer, als über 20 Leute in einen 15-Sitzer zu quetschen
Auch in Ruanda gibt es Motorradtaxis. Aber: Hier gibt es Regeln, die streng überwacht werden. Jeder Fahrer muss registiert sein und über eine individuelle Kennnummer verfügen. Es besteht Helmpflicht für Fahrer und Kunden. Und es ist nur ein Fahrgast pro Motorrad erlaubt.

Insgesamt fährt man in Ruanda vorsichtiger. Die Fahrer, die ich erlebt habe, haben mehr Rücksicht auf ihre Umwelt genommen  und vor allem haben sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten. 

Essen:
Das ruandische Essen ist für jeden Europäer ein Traum und für viele Ugander wohl eher ein Alptraum, denn das traditionelle ugandische Buffet mit Matoke, Reis, Maisstärkebrei, Kartoffeln, Wurzeln und verschiedenen Soßen findet man zumindest in Kigali selten. Dafür gibt es viele andere Gerichte, wie Pommes mit Grillhähnchen, Fish and Chips, Sandwiches aller Art und Gebäck. Und vor allem: Käse!

Umwelt:
Umweltschutz ist sehr wichtig in Ruanda. Plastiktüten sind verboten. An der Grenze werden manche Einreisende sogar auf Plastiktüten untersucht. Wer Müll auf die Straße wirft, kann mit einer hohen Geldstrafe rechnen. Insgesamt ist Ruanda sehr sauber. Und dafür leistet jeder seinen Beitrag: Einmal im Monat sind alle Ruander dazu aufgerufen, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Das halbe Land ist dann auf den Beinen, um Känale zu säubern, Straßen zu fegen und um all die anderen Dinge zu tun, die sonst unerledigt bleiben. Allerdings ist dieser eine Tag im Monat auch stark vorbelastet, denn während des Völkermordes wurde an diesem Tag zum Töten von Tutsi und Oppositionellen aufgefordert. 

Mentalität:
Natürlich ist es schwierig verallgemeinernde Aussagen über die Mentalität eines ganzen Landes zu treffen. Mir ist jedoch bei allen Bekanntschaften aufgefallen, dass diese Menschen viel zurückhaltender waren als die meisten meiner ugandischen Begegnungen. "Mzungu!" ("Weiße!"), "Hey Baby", "Sweetheart", "First come here!", "Do you have a boyfriend?", das alles höre ich in Uganda jeden Tag von Fremden. In Ruanda wurde mir so etwas nicht ein einziges Mal hinterhergerufen. Überhaupt wurde man selten angesprochen. Doch auch wenn die Ruander zurückhaltender sind, so scheinen die meisten doch sehr herzlich und hilfsbereit.  Zum Beispiel John: Ihn haben wir im Bus kennengelernt, er wollte sofort alles über Deutschland wissen. Vor allem wollte er Deutsch lernen. Also habe ich die halbe Fahrt damit verbracht, ihm ein paar Sätze beizubringen. Als Dankeschön hat er mich auf einen Kaffee und einen Kuchen in einem der besten Hotels der Stadt eingeladen. Dort arbeitet er nämlich als Konditor, worauf er unglaublich stolz ist.  Leider konnte ich die Einladung noch nicht annehmen, weil ich wieder nach Uganda zurück musste.


Lebensstil: Es fällt auf, dass der ruandische Lebensstil in der Stadt viel westlicher ist, als in Uganda.  Man legt mehr Wert auf Gesundheit und Fitness. Man isst europäisches Essen, hört amerikanische Musik und kleidet sich auch entsprechend. Ein Ruander hat mir diese Gegebenheit mit der enormen westlichen Präsenz nach dem Völkermord erklärt.  


Kultur:
Kulturelle Bildung scheint zumindest in der ruandischen Politik einen höheren Stellenwert zu haben. Symbolisch ist dafür das geistige Zentrum Huye. Hier sind Ruandas größte Universität und das Nationalmuseum angesiedelt. Das Museum ist relativ neu, wirklich groß und bietet einen breiten Einblick in ruandische Traditionen. Es soll zu den besten Museen Ostafrikas gehören (ich fand allerdings das kenianische Nationalmuseum in Nairobi mit Abstand interessanter).

Und sonst noch: 
Von 1884 bis 1916 war Ruanda eine deutsche Kolonie. Die Deutschen herrschten damals indirekten über das Land, indem sie die damaligen Monarchen kontrollierten - teils durch Handel, aber auch gewaltsam. Während die Deutschen den Monarchen zur Verwaltung nutzten, benutzte er die Weißen wiederum zum Machterhalt. So wurden Aufstände mit deutschen Kräften blutig niedergeschlagen.  Diese Zeit hat Spuren hinterlassen. Eine sichtbare Spur ist das Richard Kandt-Haus in Kigali. Die deutschen Kolonialherren und Missionare wurden von den Einheimischen übrigens als die "Roten Dinge" bezeichnet, vermutlich weil viele Gesichter der Weißen von der Sonne verbrannt waren. Die Bevölkerung fand diese Menschen sehr merkwürdig - schließlich aßen sie Eier, die allgemein als unrein galten (heute findet man überall in Ruanda Eierspeisen). Außerdem trugen sie merkwürdige Gegenstände an ihrem Füßen (Schuhe). Die Schuhe führten damals zu dem Gerücht, dass die Weißen Hufe haben, die sie vor der Welt verbergen wollten.

Zur Politik:
Eine kleine Zusammenfassung gibt es bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Ruanda#Politik
Ich würde ja zu den Themen gern selbst ausführlich etwas schreiben, aber politische Aussagen sind wegen des Neutralitätsprinzips des Roten Kreuzes immer etwas heikel. Deshalb findet ihr die Wikipedia-Informationen zu Politik und Genozid über die Links.


Das Kigali Genocide Memorial Center: 
Nach dem Völkermord von 1994, der Höhepunkt einer langen Geschichte von gewaltätigen Übergriffen zwischen Bahutu und Batutsi, bekam Ruanda eine neue Regierung, eine neue Flagge, eine neue Nationalhymne und eine neue Verfassung. Die offizielle und inoffizielle Differenzierung in Hutu und Tutsi wurde nicht nur aufgehoben, sondern verboten. Daneben wurden in ganz Ruanda Gedenkstätten eröffnet. Die Größte von ihnen ist das Kigali Genocide Memorial Center:

In dem Zentrum wird die Geschichte des ruandischen Genozids detailliert und nachvollziehbar geschildert. Neben den Informationen auf Plakaten findet man Videos mit Interviews von Zeitzeugen und Mitschnitte aus jener Phase. In einer Gallerie wird mit Fotos, Kleidungsstücken und anderen Gegenständen an die Verstorbenen erinnert. In dem Haus befinden sich zudem mehrere kleine Kapellen, in denen man beten kann. Eine gesonderte Ausstellung ist den Kindern gewidmet, die Opfer des Völkermordes wurden. Daneben gibt es noch eine oberflächliche Ausstellung über andere Völkermorde der jüngeren Geschichte. In der Nähe des Hauptgebäudes gibt es eine umfangreiche, frei zugängliche Bibliothek über Genozide und Gewalteskalationen. Mittels Büchern und Computern kann sich hier jeder informieren. Der Eintritt zu der Gedenkstätte ist frei. Der Besuch ist wirklich sehr empfehlenswert. Nach all den Arbeiten über den Genozid hätte ich nie gedacht, dass ich noch einmal so viele neue Informationen und Denkansätze finden würde. Außerdem schafft es das Zentrum, den Völkermord auf einer ganz persönlichen Ebene zu vermitteln, ohne dass es pietätlos wirkt - es kann also sein, dass die Ausstellungen mehr berühren als erwartet.
Die Gedenkstätte ist gleichzeitig ein Grab: Um die 250 000 Opfer liegen hier in Massengräbern.
Für die Hinterblienen und Trauernden wurde eigens ein Garten angelegt, in den sie sich zurückziehen können. Es kommt nicht selten vor, dass Besucher der Gedenkstätte zusammenbrechen.
Es ist anders, wenn man all dem, worüber man so viel gelesen hat, plötzlich auf dieser realen Ebene gegenübertritt. Zumindest war es so für mich.

Falls ihr Fragen zum Thema habt, könnt ihr mich sehr gern anschreiben (ist schließlich zu einem Studienschwerpunkt geworden).


Filmtipps: Der Völkermord war Gegenstand einiger interessanter Filme, so zum Beispiel "Hotel Ruanda", "The Last Just Man", "Der Mörder meiner Mutter" und "Shooting Dogs".


Das Vorbild für den Spielfilm "Hotel Ruanda" kann man in Kigali besichtigen - das Hotel Des Mille Collines.
Es ist ein luxuriöses Hotel im Zentrum der Stadt.
Man kann dort sehr gut essen, aber bei mir hat es leider nur für einen Kaffee gereicht...